zusammen mit einigem Bildmaterial veröffentlicht in: KULTUR-BLÄTTER Nr. 369 (2. April - 15. April 1994)

 

Ein Frühsommertag - morgens gegen 8.30 Uhr - ein Blick auf den Balkon, das Schnuppern der frischen Luft und die nähere Betrachtung des Himmels - bei den meisten Zeitgenossen ruft dies den Gedanken an einen Tag am "Hörnle" hervor oder weckt die Lust auf einen Ausflug mit dem Rad oder Motorrad - manche freuen sich auch schon auf das abendliche Grillen am Wasserwerk oder sonst irgendwo am See. R. allerdings hat wieder einmal einen "schlimmen" Verdacht: das Studium muß heute leider wieder einmal zurückstehen - Fliegen ist angesagt! Ein Blick in den Flugwetter-Videotext des Schweizer und des Österreichischen Fernsehens festigt die "Befürchtungen". Und siehe da, um viertel nach neun klingelt zum ersten Mal das Telefon. An solchen Tagen meldet R. sich schon gar nicht mehr mit Namen, sondern gleich mit "Flugzentrale" - und wirklich, der erste Flugbegeisterte ist am Telefon. Nach diversen Kreuz- und Queranrufen, Diskussionen über Wetterlage, Thermikerwartungen und das am meisten geeignete Fluggebiet, ist eine halbe Stunde später die heutige Crew zusammengestellt. Treffpunkt ist um 11 Uhr am Döbele, wo dann aus Kosten- und aus Umweltschutzgründen die bestmöglichste Verteilung auf die Fahrzeuge vorgenommen wird - und ab geht´s.

 

Abends gegen 22 Uhr bei einem der vielen "Türken" in Konstanz - ein herrlicher Tag im nahegelegenen Schweizer Alpsteingebiet findet seinen Ausklang bei einer kräftigen, warmen Mahlzeit, einem Glas Bier oder Schorle und natürlich einer ganzen Menge Gesprächsstoff, um danach müde aber zufrieden und glücklich in´s Bett zu fallen und im Traum dem nächsten Flugtag mit solch tollen Bedingungen entgegenzufiebern. Dazwischen liegen: ein super Frühsommerwetter, das unbeschreibliche Panorama in den Schweizer Voralpen, die trotz Tourismus fast unberührt erscheinende Natur, die klare, frische und saubere Luft, die gesunde Bewegung mit einem 15kg-Sack auf dem Rücken, herrliche, für manche auch mehrstündige Flüge, das Spinnen von "Fliegerlatein" mit Gleichgesinnten am Start- und am Landeplatz, ... und das Gefühl des Abschaltenkönnens - einfach das Gefühl der Freiheit, die bekanntlich dort oben ja grenzenlos sein soll.

 

Gleitschirmfliegen oder neudeutsch Paragliding, das in Frankreich aus dem Fallschirmspringen entstanden ist und sich dann aus der einstigen Abstiegshilfe für Bergsteiger Mitte/Ende der 80er Jahre zu einer eigenständigen Sportart entwickelt hat, wird oft als die einfachste und sicherste Art des Fliegens bezeichnet. Einfach ist sicherlich, daß die Ausrüstung dafür den Geldbeutel in einem noch erträglichen Maß belastet - für knappe 3000, - DM hat man eine komplette, gebrauchte aber dennoch gute Ausrüstung beieinander; einfach ist auch die relativ kurze Zeit des Erlernens - bereits nach wenigen Tagen sind die ersten selbständigen Höhenflüge angesagt, um dann, nach nicht allzu langer Zeit der Schulung, die Pilotenprüfung zu absolvieren; einfach ist sicher auch die Unabhängigkeit von irgendwelchen, künstlich geschaffenen "Sporteinrichtungen". - Aber wie so oft bei Sportarten, die ein - wenn auch geringes - Risiko bergen, steht und fällt die Sicherheit des Sports mit der Vernunft und der Eigenverantwortung derjenigen, die den Sport betreiben. Lernbereitschaft ist gefordert. Wer gut und sicher und damit unfallfrei fliegen möchte, muß sich unter anderem gute Meteorologiekenntnisse aneignen, damit sicher beurteilt werden kann, ob ein Start überhaupt möglich und sinnvoll ist. Es gehört eine einigermaßen gute körperliche Konstitution und eine gehörige Portion Mut dazu - der Mut nämlich, auch einmal "Nein" sagen zu können, wenn die Wetter- und Windverhältnisse oder auch die Beschaffenheit des Geländes ein Fliegen nicht möglich machen oder zumindest unsicher erscheinen lassen. Notfalls muß man auch in der Lage sein, sich in Selbstdisziplin zu üben und die Talfahrt mit der Bergbahn anzutreten oder einen Fußmarsch von ein bis zwei Stunden in Kauf zu nehmen.

 

Die zu Anfang von den Fallschirmspringern belächelten und von den Drachenfliegern mitleidig betrachteten Leute, die sich mit "fliegenden Matratzen" von steilen Berghängen lösen, um dann mit ihren Gleitschirmen zu Tal zu schweben, sind durch die rasante Entwicklung im Gleitschirmbau inzwischen durchaus in der Lage, mit den viel länger bestehenden Drachen gleichzuziehen, ja sogar manchmal - bei enger Thermik - aufgrund größerer Wendigkeit und langsamerer Fahrt im Vorteil zu sein. Sie nutzen die aufsteigende Warmluft, um bei guten Bedingungen nicht nur in´s Tal zu gleiten, sondern stundenlang in der Luft zu verweilen und bis zu weit über Hundert Kilometer Strecke zu fliegen - und dies alles ohne Motor und damit umweltfreundlich. Einem Vogel gleich ziehen sie ihre Kreise, lassen die Landschaft an sich vorbeigleiten und genießen die Aussicht, um dann sanft wie eine Feder im Tal zu landen. Die gute Leistungsfähigkeit moderner Gleitschirme hat in den letzten Jahren dazu geführt, daß sich der Wettkampfsport immer mehr entwickelt hat. Vor wenigen Jahren noch galt es lediglich, den Schirm möglichst lange in der Luft zu halten und auf dem Punkt genau zu landen. Heute wird wie beim klassischen Segelfliegen Strecke geflogen, entweder von A nach B oder im Dreieck von A über B und C nach A - und das ganze so schnell wie möglich. Nach wie vor spielt der direkte Umgang mit der Umwelt und der Natur bei einem Großteil der Fliegenden eine starke Rolle, wenn auch, wie in anderen Bereichen, auch bei der Gleitschirmfliegerei der Kommerz immer mehr seinen unvermeidlichen Einzug gehalten hat - und glücklicherweise umfaßt die Pilotenausbildung neben Gerätekunde und Sicherheit, der praktischen Ausbildung, Aerodynamik, Wetterkunde, Luftrecht und Kartenkunde auch den Natur- und Umweltschutz.

 

Eben dieser ist unter anderem auch der Inhalt der Statuten einer Gruppe von Paragleitern, die sich Ende 1992 zusammengetan und Anfang 1993 den Gleitsegelclub "Paraotic" Konstanz aus der Taufe gehoben haben. Die Wortschöpfung "Paraotic" ist während einer schweren Geburt entstanden und läßt, nicht unbeabsichtigt, Gedanken an Begriffe wie Thermik, Dynamik, Exotik, Chaotik und andere Wörter mit gleicher Endung aufkommen. Aus den anfangs sieben Gründungsmitgliedern ist ein "Haufen" von knapp dreißig weiblichen wie männlichen Flugsüchtigen unterschiedlichster Könnensstände entstanden, die sich regelmäßig jeweils am zweiten Mittwoch im Monat ab 20 Uhr im Nebenzimmer des Old Mary´s Pub zum Plausch, Fachsimpeln, zu Dia- und Videoabenden und ähnlichem treffen. Bei guter Thermik findet man sich, wie eingangs geschildert, zu Flugausfahrten in nahegelegene Fluggebiete. An weiteren Aktivitäten halten die "Paraoten" von Zeit zu Zeit ein Rettungsgerätepacken ab, bei dem ein Vereinsmitglied mit Fremdpackerberechtigung hilfreich zur Seite steht. Um die hundertprozentige Funktionstüchtigkeit des, z.B. im Fall eines Zusammenstoßes in der Luft eventuell sehr wichtig werdenden, Zweit- oder Notschirmes zu erhalten, muß dieser von Zeit zu Zeit neu gepackt werden. Außerdem werden mehrtägige Ausflüge, kleinere Wettbewerbe aber auch Grillabende und ähnliches gemeinsam durchgeführt. Die Wichtigkeit einer guten und gründlichen Ausbildung unterstreichend, unterhält der Verein enge Kontakte zu Flugschulen, ebenso zu Händlern sowie anderen Clubs. Neue Gesichter bei den monatlichen Treffen sind willkommen und können unverbindlich vorbeischauen. Für interessierte (Noch-) Nichtflieger/-innen werden günstige Doppelsitzerflüge zum Reinschnuppern vermittelt. Und eben dies ist seit kurzer Zeit die einfachste Art, die Freiheit dort oben kennenzulernen - eben die Faszination des Fliegens.

 

Text: Reiner Janke